17 March 2022

Eine kleine Sensation aus Den Haag

Der Ukraine-Krieg vor dem Internationalen Gerichtshof

Am 16. März 2022 hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) einstweilige Maßnahmen (provisional measures) gegenüber Russland erlassen. Mit 13 zu 2 Stimmen hat er angeordnet,

  1. die am 24. Februar 2022 begonnenen militärischen Operationen im Gebiet der Ukraine unverzüglich einzustellen und
  2. sicherzustellen, dass alle militärischen oder irregulären bewaffneten Einheiten, die von Russland geführt oder unterstützt werden, sowie alle Organisationen und Personen, die seiner Kontrolle oder Leitung unterstehen, keine Schritte unternehmen, die die unter Nummer 1 genannten militärischen Operationen unterstützen.

Die Anordnung dieser einstweiligen Maßnahmen ist eine kleine Sensation.

Umstrittene Zuständigkeit

So offensichtlich der von Russland begangene Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot sein mag, so schwierig ist es, in einem solchen Fall die Zuständigkeit des IGH zu begründen. Der IGH ist grundsätzlich nur zuständig für eine Streitigkeit, wenn beide Parteien dem zugestimmt haben. Mit Blick auf den russischen Angriff auf die Ukraine fehlt es an einer solchen beiderseitigen Zustimmung. Auch beiderseitige Erklärungen nach Art. 36 Abs. 2 des IGH-Statuts, mit denen sich Staaten unabhängig von einem bestimmten Streitfall der Zuständigkeit des IGH unterwerfen können, liegen nicht vor.

Die Ukraine hat einen klugen Weg gewählt, die Zuständigkeit des IGH dennoch zu etablieren. Sowohl Russland als auch die Ukraine sind Parteien der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948 (Völkermordkonvention). Art. 9 der Völkermordkonvention sieht vor, dass Streitfälle zwischen den Vertragsparteien hinsichtlich der Auslegung, Anwendung oder Durchführung dieser Konvention einschließlich derjenigen, die sich auf die Verantwortlichkeit eines Staates für Völkermord beziehen, auf Antrag einer der an dem Streitfall beteiligten Parteien dem IGH unterbreitet werden.

Nun ist die Ukraine nicht etwa mit der Behauptung an den IGH herangetreten, der russische Angriff auf die Ukraine erfülle den Tatbestand eines Völkermords. Zielrichtung ihres Antrages ist vielmehr die russische Begründung des Angriffs. Russland habe vor dem Angriff wiederholt behauptet, die Ukraine begehe in der Donbass-Region einen Völkermord. Der IGH möge erkennen, dass dies nicht zutreffe. Gegenstand des Verfahrens in der Hauptsache ist also ein negativer Feststellungsantrag der Ukraine. Mit dem gleichzeitig gestellten Antrag auf Erlass einstweiligen Maßnahmenverlangte die Ukraine insbesondere die unverzügliche Einstellung der Feindseligkeiten durch Russland und unter russischer Kontrolle stehende bewaffnete Einheiten.

Ein überraschender Erfolg

Der Erfolg des Antrags auf Erlass einstweiliger Maßnahmen war keineswegs vorgezeichnet. Das von Russland vorgebrachte Argument, es gehe in dem Streit eigentlich nicht um die Völkermordkonvention, sondern um die Frage der Zulässigkeit zwischenstaatlicher Gewaltanwendung, was nicht Regelungsgegenstand der Völkermordkonvention sei, erscheint rechtlich erst einmal valide. Tatsächlich enthält die Völkermordkonvention keine Regelungen, anhand derer der IGH die Zulässigkeit eines bewaffneten Angriffs beurteilen könnte. Das völkerrechtliche Gewaltverbot ist in Art. 2 Abs. 4 der Charta der Vereinten Nationen kodifiziert und Teil des Völkergewohnheitsrechts. Gegenstand der Völkermordkonvention ist es nicht. Der IGH hätte daher durchaus mit guten (prozessualen) Gründen seine Zuständigkeit verneinen können.

Doch die große Mehrheit der Richterinnen und Richter hat sich anders entschieden. Sie hält den IGH für zuständig, weil sie

  1. es als erwiesen ansieht, dass Russland sich zur Rechtfertigung des Angriffs darauf berufen habe, die Ukraine begehe in der Donbass-Region einen Völkermord, was die Ukraine bestreite (Abs. 36 ff. der Entscheidung); d.h. es liegt ein Streit über den Gegenstand der Völkermordkonvention vor,
  2. die Völkermordkonvention im Lichte von Art. 1 der Charta der Vereinten Nationen auslegt (hier heißt es u.a.: „[t]o maintain international peace and security, and to that end: to take effective collective measures for the prevention and removal of threats to the peace, and for the suppression of acts of aggression or other breaches of the peace, and to bring about by peaceful means, and in conformity with the principles of justice and international law, adjustment or settlement of international disputes or situations which might lead to a breach of the peace”.) und daraus ableitet, die Ukraine dürfe zur Durchsetzung der Konvention keinen militärischen Operationen ausgesetzt werden (Abs. 60: „…has a plausible right not to be subjected to military operations by the Russian Federation for the purpose of preventing and punishing an alleged genocide in the territory of Ukraine.“),
  3. daraus folgerichtig schlussfolgert, dieses Recht sei durch die anhaltenden militärischen Operationen der Gefahr irreparabler Schäden ausgesetzt (Abs. 77).

Alternativbegründung kommt nicht zum Zuge

Bemerkenswert ist, dass der Gerichtshof seine Anordnung zur unverzüglichen Einstellung der Feindseligkeiten uneingeschränkt ausgesprochen hat, obwohl Russland sich im Nachhinein darauf berufen hat, der Angriff auf die Ukraine erfolge in Wahrheit in Ausübung des Selbstverteidigungsrechts (Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen) und nicht zur Durchsetzung der Völkermordkonvention. Die Feindseligkeiten sind nach dem Tenor der Anordnung unabhängig von ihrer Begründung unverzüglich einzustellen. Wie lässt sich dies begründen, wenn man davon ausgeht, dass sich die Zuständigkeit des IGH auf Fragen der Völkermordkonvention beschränkt? Die einfache Antwort hierauf könnte sein, dass der IGH Russlands Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht schlicht für substanzlos hielt.

Dennoch erscheint es schon fast paradox. Hätte Russland sich im Vorfeld des Angriffs nicht berühmt, einen Völkermord verhindern zu wollen, wäre der Antrag der Ukraine wohl chancenlos gewesen. Vielleicht enthält die Entscheidung daher auch die folgende Botschaft: Ein Staat, der meint, einen bewaffneten Angriff mit der Verhinderung eines (vermeintlichen) Völkermords rechtfertigen zu können, akzeptiert, dass der IGH mit von der Partie ist. Er unterwirft den Konflikt auf diese Weise gleichsam konkludent der Zuständigkeit des IGH – und zwar unabhängig davon, welche anderen Begründungen er noch in petto hat. Einen Austausch der Begründungen lässt der IGH nicht gelten. Anders mag es sein, wenn die Alternativbegründung Substanz hat. Es erscheint jedenfalls schwer vorstellbar, dass der IGH einem Staat, der sich, prima facie, zulässigerweise (auch) auf das Selbstverteidigungsrecht berufen könnte, mit einer unbeschränkten Anordnung zur Einstellung der Feindseligkeiten in den Arm gefallen wäre. Dass er es hier dennoch getan hat, spricht auch insofern Bände.

Die Entscheidungen des IGH sind für die Streitparteien bindend (Art. 94 Abs. 1 UN-Charta; Art. 59 IGH-Statut). Selbst durchsetzen kann der IGH seine Entscheidungen allerdings nicht. Hierfür ist nach Art. 94 Abs. 2 UN-Charta der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zuständig. Alle Beschlüsse des Sicherheitsrates, die nicht nur Verfahrensfragen betreffen, bedürfen der Zustimmung sämtlicher ständiger Mitglieder des Sicherheitsrates (Art. 27 Abs. 3 UN-Charta). Zu den ständigen Mitgliedern gehört bekanntlich auch Russland.

Praktische Folgen wird die Anordnung von 16. März 2022 daher aller Voraussicht nach vorerst nicht haben. Ihre Bedeutung sollte gleichwohl nicht unterschätzt werden. Nachdem bereits die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Angriff mit nur fünf Gegenstimmen (darunter derjenigen Russlands und des anderen Aggressors Belarus) mit deutlichen Worten verurteilt hat, bringt nun auch das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen (Art. 92 UN-Charta) – und damit die völkerrechtliche Autorität schlechthin – zum Ausdruck, dass es den russischen Rechtfertigungsansätzen offenbar nicht allzu viel abgewinnen kann. Das Argument, der Angriff sei zur Verhinderung eines Völkermordes in der Donbass-Region erforderlich, dürfte nun schon deshalb obsolet geworden sein, weil Russland sich im Zuge des Verfahrens selbst davon distanziert hat.


SUGGESTED CITATION  Johann, Christian: Eine kleine Sensation aus Den Haag: Der Ukraine-Krieg vor dem Internationalen Gerichtshof, VerfBlog, 2022/3/17, https://verfassungsblog.de/eine-kleine-sensation-aus-den-haag/, DOI: 10.17176/20220318-001249-0.

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